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Meine Rede zum Volkstrauertag

Meine sehr geehrten Damen und Herren!

Nichts Vergangenes lässt sich verändern. Doch alles Vergangene hinterlässt uns etwas.

In dem, was uns das Vergangene hinterlässt, finden wir Traditionen und Bräuche, wir stoßen auf das Scheitern und Schaffen, auf menschliches Versagen und menschliches Vollbringen.

Das alles verrät uns: Der Mensch war zu keiner Zeit vollkommen. Er hatte zu allen Zeiten Stärken, und er hatte zu allen Zeiten Schwächen.

Das Vergangene erscheint uns – verwurzelt im Heute – oft lange her. Doch was sind 50, 75 oder 100 Jahre in der Weltgeschichte, der Menschheitsgeschichte? Selbst das vor drei oder vier Generationen Geschehene gleicht da einem Gestern.

Gerade an einem Tag wie diesem wird uns bewusst: So viel Geschehenes ist noch frisch, noch sichtbar, wir sehen Mahnmale, Gräber und Denkmäler, auch Wunden – zu groß, um von der Zeit geheilt worden zu sein.

Heute stehen wir hier beieinander, am Volkstrauertag, und gedenken der Kriegstoten und Opfer von Gewaltherrschaft auf der Welt. Wir gedenken Menschen, die nicht mehr unter uns sind. Viele der hier Anwesenden können sich noch gut erinnern.

Wir stehen heute auch beieinander mit einem Wissen und einem Willen. Da ist unser Wissen um das Vergangene, unser Gestern. Und da ist unser Willen für das Kommende, unser Morgen. Da ist mit einem Wort: Verantwortung.

Unser Jahr 2020 ist ein besonders geschichtsträchtiges; ein Jahr, das uns Vergangenes so oft in Erinnerung ruft wie lange nicht mehr.

Vor 75 Jahren endete der Zweite Weltkrieg. Im Mai 1945 marschierten amerikanische Truppen in unseren Kreis. Es endete die nationalsozialistische Herrschaft, die millionenfachen Tod über Deutschland, Europa und die Welt gebracht hatte. Der Zivilisationsbruch der Shoah war ein einzigartiges Menschheitsverbrechen. Die Shoah war, ist und bleibt ein Symbol für unfassbare Grausamkeit und die Missachtung menschlicher Würde. 

Ja, auch sie – diese Zeit – ist ein Erbe, ein besonders bitteres, grausames, nicht vergehendes Erbe. Und deswegen müssen wir uns gegen jeden aufkommenden Antisemitismus in Deutschland wehren. Und das ist nicht nur eine Sache, von politisch Verantwortlichen, sondern hier ist jede und jeder im Alltag gefragt.

Und nehmen wir es an. Das „Nie wieder!“ ist unsere Verantwortung.

Fast 100 Jahre ist der Volkstrauertag alt, und seine Geschichte zeigt uns die Brüche und Schattenseiten unserer eigenen Geschichte.

Im Jahr 1922 fand die erste Gedenkstunde im Berliner Reichstag statt. Drei Jahre später wurde der Volkstrauertag zum ersten Mal begangen. Es war ein Gedenken an die deutschen Gefallenen des Ersten Weltkriegs, an Söhne, Brüder, Väter, Ehemänner.

Im Nationalsozialismus wurde der Volkstrauertag für die Propaganda missbraucht. Nicht mehr das Totengedenken zählte, sondern die Heldenverehrung.

In der DDR wurde wieder gedacht – aber nur der „Opfer des faschistischen Terrors“. Das Gedenken war somit zugleich ein verordnetes Nichtgedenken. So vielen Toten durfte nicht gedacht werden.

In der Bundesrepublik wird seit 1952 zwei Sonntage vor dem ersten Adventssonntag der Volkstrauertag begangen – als stiller Feiertag, die Fahnen auf Halbmast. Neben der zentralen Gedenkveranstaltung in Brakel, gibt es nach wie vor eine lange Tradition des Gedenkens in vielen Orten im Kreis Höxter. Denkmäler erinnern an die schweren Stunden unseres Landes und jedes Jahr treffen sich Menschen, die daran erinnern wollen.

Wir bekommen die Gelegenheit zu Einkehr und Besinnung.

Keine Trauer wird uns heute befohlen und keine Trauer verboten.

Wir gedenken der deutschen Opfer genauso wie der Opfer der Deutschen.

Wir gedenken der Kriegstoten und der Opfer von Gewaltherrschaft aller Nationen.

Wir überwinden die eigenen Grenzen, unsere familiären und persönlichen Grenzen, genauso wie geografische Grenzen oder religiöse Grenzen.

Vielleicht trennt uns manches – aber so viel mehr verbindet uns. Und wir stellen das Verbindende über das Trennende.

Es ist so viel mehr Platz in unseren Herzen als vor Jahrzehnten noch.

Beispielhaft steht dafür der Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge. Seit mehr als 100 Jahren pflegt und bewahrt der Volksbund die Gräber der deutschen Kriegstoten. Heute werden in 46 Ländern 832 Kriegsgräberstätten mit mehr als 2,8 Millionen Kriegstoten betreut.

Zugleich engagiert sich der Volksbund für den Dialog, besonders mit Mittel- und Osteuropa. Er bringt junge Menschen aus ganz Europa zusammen, stiftet Freundschaften und vermittelt damit eine wichtige Verantwortung: Frieden kann jede Generation nur gemeinsam bewahren.

Im Deutschen Bundestag geben wir seit über 30 Jahren jährlich 120 Stipendiaten aus mittlerweile 50 Ländern die Gelegenheit, unsere Demokratie kennenzulernen. Wichtiger Bestandteil ist der Austausch junger Menschen aus vielen Nationen und unterschiedlichen Religionen. Und ich kann Ihnen sagen, dass solche Programme mindestens genauso wichtig sind wie so manche diplomatische Initiative zur Völkerverständigung.

In diesem Jahr hat der Schriftsteller Wolfgang Büscher einen wunderbaren Roman vorgelegt, ein dünnes Büchlein. „Heimkehr“ heißt es. Wolfgang Büscher erzählt von einem Kindheitstraum, den er sich erfüllt: Er zieht in den Wald und verbringt dort Frühling, Sommer und Herbst. Ohne fließendes Wasser, ohne Strom, ganz karg. Und doch findet er in dieser Ursprünglichkeit, bei diesem Zurück in das Vergangene etwas: eine ganz persönliche, eigene Freiheit.

An einer Stelle notiert er: „Fragte mich jemand, was das sei, Freiheit, müsste ich antworten, nichts Besonderes, aber etwas sehr Süßes.“

Ist Freiheit nichts Besonderes? Nun: Uns, die wir heute hier beieinanderstehen, uns kann Freiheit durchaus selbstverständlich erscheinen.

Freiheit kann dabei nie alleine stehen, nie absolut sein. Eine solche Freiheit wäre am Ende nur das Recht der Stärkeren. Echte Freiheit bedeutet gerade nicht, dass sie zu Lasten der Freiheit der anderen geht.

Freiheit braucht, wie eine Schwester, die Verantwortung. Wenn wir Menschen Verantwortung für uns selbst und füreinander übernehmen, dann leben wir in echter Freiheit.

Das spüren wir gerade in diesem Jahr. Ich habe gesagt: 2020 ist ein geschichtsträchtiges Jahr. Aber 2020 ist selbst längst historisch, es wird in Erinnerung bleiben. Und das liegt daran, dass wir mit der Corona-Pandemie eine historische Krise erleben – unser Land und die ganze Welt.

Diese außergewöhnliche Notsituation ist auch eine Prüfung. Wir werden Tag für Tag in unserer Menschlichkeit geprüft. Sehen wir nur unsere Freiheit? Oder übernehmen wir zugleich auch die Verantwortung, die dazugehört, unsere Verantwortung für den Nächsten und die Gemeinschaft?

Corona ist eine außergewöhnliche Krise, und sie erfordert außergewöhnliche Anstrengungen: von jedem Einzelnen, jeder Familie, den Unternehmen. Auch vom Staat verlangen wir außergewöhnliche Anstrengungen. Unser Staat hilft, schnell und mit all seiner Kraft. Deshalb steht Deutschland besser da als so viele andere Länder.

Und dennoch: Diese historische Krise werden wir nur gemeinsam meistern. Nur wenn wir aufeinander aufpassen, wenn wir rücksichtvoll sind, die Hygiene-Regeln beachten – gerade mit Blick auf den Herbst und den Winter.

Meine Damen und Herren,

Konrad Adenauer hat einmal gesagt: „Frieden und Freiheit, das sind die Grundlagen jeder menschenwürdigen Existenz.“

Er sagte diesen Satz in seiner Weihnachtsansprache 1952 – auch mit Blick auf die Deutschen in der DDR. Und keine zehn Jahre später war da nicht mehr nur eine Grenze. Nun trennten Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl Deutsche von Deutschen. Und das für die nächsten 28 Jahre.

Am Ende aber siegte die Freiheit, und unsere Nation wurde wieder eins.
Die Wiedervereinigung vor 30 Jahren war die glücklichste Stunde der deutschen Geschichte – und sie ist es noch immer.

Nur: Unsere Welt nicht so geworden, wie wir uns das mit dem Zusammenbruch des Kommunismus erhofft hatten. Nicht so friedlich, nicht so demokratisch, nicht so freiheitlich.

Wir hatten gehofft, die Menschheit bewege sich unaufhaltsam in eine Richtung – hin zu freien, gefestigten Demokratien, zu einem friedlichen Miteinander. Heute kann jeder sehen, dass der Verlauf der Geschichte offen ist.

Wir erleben Krisen, Konflikte und Terrorismus. Die islamistischen Anschläge in Frankreich und Österreich oder der Konflikt um Berg-Karabach führen uns die Realität vor Augen.

Das Völkerrecht, die universelle Gültigkeit von Menschenrechten und die Freiheit sind nach wie vor in Gefahr. 

Autokraten und Diktatoren schmeckt die Vorstellung von einem Leben in Freiheit gar nicht. Deshalb wollen sie mit allen Mitteln verhindern, dass außer ihnen und einer kleinen Riege von Getreuen jemand in den Genuss der Freiheit kommt, des Süßen, wie Wolfgang Büscher sie nennt.

Ja, vielerorts und viel zu oft ist Freiheit nach wie vor etwas Besonderes. Und noch immer gilt der Satz von Konrad Adenauer: „Frieden und Freiheit, das sind die Grundlagen jeder menschenwürdigen Existenz.“

Menschen verdienen ein Leben in Würde, in Frieden und Freiheit.

Wo Krieg und Gewalt sind, können Menschen nicht in Würde leben. Ein menschenwürdiges Leben ist unmöglich, wo die Würde und die Freiheit mit Füßen getreten werden.

Freiheit braucht neben der Verantwortung noch eine zweite Schwester: die Sicherheit.

Nur wer sicher lebt, ist wirklich frei.

Menschen sollen einschlafen mit der Sicherheit: Heute Nacht geht es nicht um Leben und Tod. Auf mein Haus fällt keine Bombe, und meine Haustür wird auch nicht eingetreten von einer Geheimpolizei.

Mütter und Väter sollen mit der Sicherheit aufwachen: Mein Kind geht in eine Schule, nicht in eine Anstalt, die ihm eine Ideologie anerzieht. Bildung und Erziehung meint nämlich immer auch Charakter- und Herzensbildung, meint Werte und Tugenden wie Anstand und Ausdauer, Zuversicht und Selbstbewusstsein, Ehrlichkeit und Ehrgeiz. Das geht nur in einem sicheren, in einem freien Land.

Ja, Kinder haben immer Träume. Aber nur in einem freien und sicheren Land haben Kinder die Möglichkeit, sich ihre Träume zu erfüllen.

Deshalb wollen wir unseren Beitrag leisten für eine friedlichere und stabilere Welt. Und das tun wir auch. Vor 65 Jahren wurde unsere Bundeswehr gegründet. Wir beteiligen uns heute in Gemeinschaft mit unseren Nachbarn und Verbündeten an internationalen Auslandseinsätzen, wie die Soldatinnen und Soldaten des ABC-Abwehrbataillion 7. Sie riskieren ihr Leben für die Sicherheit und Stabilität auf der Welt. Auch der im Einsatz getöteten Kameraden gedenken wir heute.

Als Christen kennen wir das Gebot der Nächstenliebe: Liebe Deinen Nächsten wie Dich selbst. Nun denken wir beim „Nächsten“ schnell an die Familie oder an Freunde. Doch die Würde des Menschen ernst zu nehmen bedeutet: Wir sehen den Nächsten in jedem Menschen, egal woher er kommt, was er glaubt, wie er aussieht.

Und das bedeutet auch: Wir stehen global für die Würde des Menschen ein.

Ja, heute ist ein Tag der Trauer. Wir gedenken der Kriegstoten und Opfer von Gewaltherrschaft von überall.

Und zugleich mahnt uns der Volkstrauertag, Versöhnung, Verständigung und Frieden zu suchen.

So stehen wir hier beieinander – erfüllt vom Wissen um das Vergangene, unser Gestern, und erfüllt vom Willen für das Kommende, unser Morgen.

Wir stehen zu unserer Verantwortung.

Unsere Welt wird nie perfekt sein, denn sie wird von Menschen gemacht – und Menschen sind nie vollkommen. Aber sie haben Fähigkeiten, jeder einzelne Mensch.

Und deshalb kann unsere Welt sicherer und friedlicher, demokratischer, gerechter und freier werden, als sie heute ist. 

Wir glauben daran, dass Freiheit und Frieden stärker sind als Unfreiheit und Krieg.

Wir glauben daran, dass Menschen ein Leben in Freiheit und Frieden suchen; ein selbstbestimmtes Leben, mit eigenen Entscheidungen, die sie treffen, und einer Verantwortung, die sie für sich und für andere übernehmen.

Und wir glauben daran, dass sie den Mut zu einem Leben in Frieden und Freiheit in sich tragen.

Wir haben diesen Mut so oft gesehen. Am Ende hat er meist gesiegt.

Vielen Dank!